Der Zustand unserer Gesellschaft kann charakterisiert werden durch:
ein Ausmaß an Spezialisierung in Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung, das alles Bisherige in den Schatten stellt;
eine Diskrepanz zwischen den verbalisierten Werthaltungen der Bürger und ihrem Verhalten, die bisher wahrscheinlich nie größer war;
das Fehlen einer Überprüfung der Gesetzeswerke auf nationaler und europäischer Ebene sowie der internationalen Verträge auf ihre Kompatibilität mit den Zielen der Nachhaltigkeit,
eine enorme Ungleichverteilung der Vermögen;
eine Ballung von wirtschaftlicher Macht, die es einer kleinen Minderheit dank der geltenden Spielregeln erlaubt, die große Mehrheit zu erpressen;
eine immer schneller wachsende Produktion neuen, wissenschaftlichen Detailwissens;
steigende Anstrengungen, dieses Detailwissen immer schneller wirtschaftlich nutzbar zu machen;
ein Verständnis der Lebenszusammenhänge, das nicht Schritt hält mit der Eingriffstiefe menschlichen Tuns;
eine Kluft zwischen dem Wissensvorrat der Gesamtgesellschaft und dem des einzelnen Bürgers, die bisher wahrscheinlich nie größer war;
eine Kluft zwischen dem Wissensvorrat der am besten informierten Bürger und der am wenigsten informierten, die bisher wahrscheinlich nie größer war;
eine Verschiedenheit der Welt- und Menschenbilder in den Köpfen der Bürger, die bisher wahrscheinlich nie größer war;
das Fehlen eines Allgemeinbildungskonzepts, das den heutigen Herausforderungen gerecht wird;
das Fehlen einer lebenslangen Allgemeinbildungspflicht.
Diese Bedingungen tragen nicht gerade dazu bei, Schritte in Richtung Nachhaltigkeit zu fördern, besonders, wenn man sich bewusst macht, welche Probleme die Bürger bei der Umsetzung einer nicht präzise formulierten, gemeinsamen Wertordnung in der heutigen Situation bewältigen müssen. Es geht dabei um:
Wissensprobleme,
Wertungsprobleme,
Praxisprobleme.
Zum angemessenen Umgang mit diesen Problemen gehören folgende Prozessschritte:
Zustandsbeschreibung,
Ursachenkenntnis,
Zielvorstellung,
Bewältigungsmöglichkeiten,
Bewältigungsschritte,
Hindernisse,
mögliche Nebenfolgen,
Kosten der Bewältigungsstrategie.
Die dazu erforderliche Kommunikation und Kooperation zwischen Menschen bzw. Menschengruppen gestaltet sich heute äußerst schwierig, weil sich die Beteiligten
im Wissen,
in der Wahrnehmung,
in der Verarbeitung,
in der Bewertung und
bei der Umsetzung erheblich unterscheiden.
Daraus wird indirekt ersichtlich, mit welchem enormen Zeitaufwand man rechnen muss, wenn man in unserer Gesellschaft einen fruchtbaren Diskurs zum Problem Nachhaltigkeit zustande bringen will.
Hoffnungsvoll sollte das Bekenntnis aller gesellschaftlich relevanten Gruppen zum Prinzip der Nachhaltigkeit stimmen. Die weit verbreitete Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, weist darauf hin, dass die gegenwärtige Entwicklung großen Teilen der Gesellschaft Unbehagen bereitet, weil sie wachsende Gefahrpotentiale sehen.
Offensichtlich beruht dieses Unbehagen auf sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen und Einschätzungen. Die Unterschiede werden schmerzlich deutlich, wenn man versucht, ein konkretes, gemeinsames Nachhaltigkeitskonzept zu entwickeln.
Dann kommt der Wirrwarr der unterschiedlichen Welt- und Menschenbilder in den Köpfen der Bürger zum Tragen, treten die unterschiedlichen Sichtweisen hervor, wird Hilf- und Ratlosigkeit als Faktor des Unbehagens bei Bürgern wie Entscheidungsträgern erkennbar, kommt eine große Kluft zwischen den verbalisierten Werthaltungen und dem Verhalten zum Vorschein.
Auf diese Kluft hat schon Arne Naess von der Universität Oslo vor mehr als 20 Jahren mit seiner Untersuchung über die Haltung der Bürger und der Funktionseliten seines Landes gegenüber der nichtmenschlichen Natur aufmerksam gemacht und gezeigt, welche politischen Maßnahmen zum Schutz der Natur eine breite Mehrheit finden müssten, wenn die Bürger und die Funktionseliten ihre geäußerten Werthaltungen ernst nähmen.
Literatur
Ruth Kaufmann-Hayos, Antonietta Di Giulio (Hrsg.): Umweltproblem Mensch. Humanwissenschaftliche Zugänge zum umweltverantwortlichen Handeln Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart 1996
ArneNaess: Intrinsic Value: Will the Defenders of Nature Please Ris in: Michael E. Soulé (ed.): Conservation Biology. The Science of Scarcity and Diversity, S.504-515, Sinauer, Sunderland (USA) 1986